Der gründerzeitliche Neubau Schulterblatt 37-39 ist der Beweis dafür, dass man auch heute noch mit demselben gestalterischen Anspruch bauen kann. Aber wie war das möglich und kann ein solches Bauen reproduziert werden? Was sagen die Bauherrin und der Architekt dazu? Stadtbild Deutschland hat ihnen dazu im Frühjahr 2024 einige Fragen gestellt. Das Ergebnis wird all diejenigen verblüffen, die immer noch behaupten, so etwas wäre technisch oder finanziell unter heutigen Bedingungen nicht mehr leistbar.
Ein Bauherr, der heutzutage beschließt, eine gründerzeitlich anmutende Fassade zu errichten, ist in Deutschland immer noch ziemlich ungewöhnlich. Welches Grundanliegen, welche Idee steckte dahinter?
Dr. Maren Landschulze: Nicht nur eine gründerzeitlich anmutende Fassade! Vielmehr wollten wir auch das Innere so gestalten wie ein gründerzeitliches Haus, d.h. mit Kassettentüren, Stuck, Dielen- bzw. Parkettböden und historisierenden Fliesenmustern. Wir haben uns dabei an einem historischen Vorbild aus unserem Bestand orientiert. Motiviert hat uns zum einen unsere Begeisterung für Bauten der Gründerzeit. Wie viele andere auch empfinde ich es immer als schmerzlich, wenn ein historisches Haus abgerissen wird. Mit dem Neubau am Schulterblatt ist auch der Wunsch verbunden gewesen, dem Verschwinden von gründerzeitlichen Bauten in Hamburg etwas entgegenzusetzen. Durch unsere langjährige Tätigkeit in der Sanierung denkmalgeschützter Altbauten hatten wir schon eine gute Kenntnis der für Hamburg typischen bauzeitlichen Stilelemente. Vor einigen Jahren haben wir ein gründerzeitliches Haus teilweise wieder aufgebaut. Das hat uns gezeigt, dass es möglich ist, Fassaden und Wohnräume im Stil der Gründerzeit zu rekonstruieren. Meiner Erfahrung nach erfreuen sich gründerzeitliche Bauten nach wie vor großer Beliebtheit. Die Innenräume mit ihrem Formenreichtum, den handwerklich hergestellten Oberflächen und „natürlichen“ Materialien, die oft erstaunlich bunte Farbgebung z.B. der Fliesen begeistern auch heute noch und lassen moderne Neubauten zu nüchtern erscheinen.
Schließlich wollten wir dann die Idee umsetzen, ein ganzes Haus in diesem Stil zu planen und zu bauen, und so die Erfahrungen aus der Altbausanierung und der Rekonstruktion auf einen Neubau zu übertragen.
Der Einwand gegen solche Projekte ist oft, dass es zu teuer wäre und sich dann kein bezahlbarer Wohnraum mehr verwirklichen ließe. Verkürzt wird das Argument schnell, dass es unsozial wäre, „schön“ zu bauen. Was würden Sie als Bauherr/Bauherrin solchen Leuten entgegnen?
Dr. Maren Landschulze: Schön zu bauen ist nicht unbedingt teuer und es wird auch viel Hässliches teuer gebaut. Schon in den 20er Jahren hat man versucht, preisgünstiges Bauen mit einem hohen ästhetischen Anspruch zu vereinen und war m. E. sehr oft damit erfolgreich. Wenn das Geld an der richtigen Stelle investiert wird (z.B. in hochwertige Baumaterialien und solide und dauerhafte Konstruktionen sowie in „zeitlose“ Gestaltung, die keinen kurzfristigen Modeerscheinungen folgt), sind die höheren Kosten gut investiert und man baut nachhaltig. Ein von vornherein am Stil des Hauses ausgerichtetes Badezimmer z.B. folgt zwar nicht der Mode, kann aber auch nicht unmodern werden. Es kann so lange erhalten bleiben, wie das Material hält, sodass es nicht nötig ist, nach ein paar Jahren neu zu fliesen. Schönheit im Stadtbild und im Haus bzw. in der Wohnung ist ein Element, das zum Wohlbefinden und zur Identifikation mit dem Wohnort beiträgt.
In vielen Städten gibt es, wenn ein Bauherr eine klassisch-traditionelle Fassade wünscht, unseren Erfahrungen nach, erst mal große Probleme mit dem örtlichen Bauamt, das solchen Ideen meist skeptisch gegenübersteht und als „historisierend“ ablehnt. Dies scheint hier nicht der Fall gewesen zu sein. Wie erklären Sie sich das? Ist das Projekt dem Amt einfach „unter dem Radar durchgerutscht“ oder gab es seitens des Amtes gar keine rechtliche Handhabe?
Dr. Maren Landschulze: Dieses Problem hatten wir hier nicht. Bei einem früheren Vorhaben, der Teilrekonstruktion, die ich eben erwähnte, gab es das aber sehr wohl. Dort hatte die Stadt Hamburg bzw. deren Stadtentwicklungsgesellschaft sich einen modernen Wiederaufbau gewünscht. Entsprechende Pläne lagen bereits vor und das Vorhaben der Rekonstruktion stieß auf eine gewisse Skepsis.
Ralph Matthiesen: Das „Einfügungsgebot“ nach § 34 Baugesetzbuch bezieht sich auf planungsrechtliche Aspekte wie beispielweise das sogenannte „Maß der baulichen Nutzung“, also wieviel Quadratmeter Grund- oder Geschossfläche ein Gebäude aufweist. Es bietet in der Regel keine Handhabe zur Einflussnahme auf die Fassadengestaltung. Die bauordnungsrechtlichen Anforderungen an die Gestaltung sind in § 12 der Hamburgischen Bauordnung geregelt. Demnach sollen Gebäude „nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, dass sie nicht verunstaltend wirken“. Die Fassade des Neubaus im Schulterblatt 37-39 erfüllt diese Anforderungen. Die historisierende Fassade war zu keinem Zeitpunkt Thema. In den Gesprächen mit der Bauprüfung ging es um Brandschutz, Rettungswege, Wärme- und Schallschutz, wie bei jedem anderen Bau auch.
Gut, jetzt hat man die Möglichkeit, eine gründerzeitliche Fassade zu bauen und den Bauherren, der das auch möchte. Welche technischen Probleme gab es dann bei der Umsetzung zu bewältigen? Welche alternativen Lösungen konnten dafür gefunden bzw. Kompromisse mussten eingegangen werden?
Ralph Matthiesen: Die Gestaltungsmöglichkeiten gründerzeitlicher Fassaden sind eng verknüpft mit deren konstruktiver Beschaffenheit, welche sich wiederum aus den technischen Erfordernissen der damaligen Zeit ergibt. Die heutigen Anforderungen sind natürlich insbesondere im Schall- und Wärmeschutz komplexer. Die Herausforderung besteht darin, die historische Anmutung mit den heutigen Anforderungen in Einklang zu bringen. Einige Beispiele, die Fassade betreffend: Bei der plastischen Gestaltung des Sichtmauerwerks macht es einen Unterschied, ob man einen einschaligen Wandaufbau, wie früher üblich, oder einen zweischaligen Wandaufbau hat, wie er heutzutage bei den meisten Bauten umgesetzt wird. Oder beim Fugenbild: In gründerzeitlichen Mauerwerksfassaden beträgt die Breite der Stoß- und Lagerfugen 5 bis maximal 7- 8 Millimeter. Heute liegt sie bei 10 bis 12 Millimetern, also ein Faktor von 1,5 bis zu 2,0. Wie verbindet man die gestalterisch prägenden historische Fugenbreite mit der heute geforderten, normgerechten Rückverankerung der Fassade mittels Drahtankern in der tragenden Wand? Die Drahtanker erfordern eigentlich deutlich höhere Lagerfugen. Ein weiteres Thema sind die Dehnungsfugen: Gründerzeitliche Mauerwerksfassaden kennen keine durchgehenden, vertikalen Fugen im Verblendmauerwerk. Sie sind aber essenziell, um die temperaturbedingte Ausdehnung der Verblendschale aufzunehmen. Oder auch: Für eine normgerechte kontrollierte Wohnraumlüftung sind Aussenwanddurchlässe notwendig. Wie lassen sie sich in eine Fassade integrieren, in der sie gestalterisch nicht vorgesehen sind? Es gibt viele funktionale Anforderungen, die bedacht werden müssen. Je früher sie in die Planung einbezogen werden, um so besser.
Vieles ließe sich angeblich heute auch deshalb nicht verwirklichen, sagen Viele, weil das Baurecht oder auch moderne Nutzungsansprüche es gar nicht zuließen, so zu bauen. Welche Probleme galt es diesbezüglich zu bewältigen und auch hier: Welche alternativen Lösungen konnten dafür gefunden bzw. welche Kompromisse mussten eingegangen werden?
Dr. Maren Landschulze: Die Idee einer gründerzeitlichen Gestaltung ließ sich fast voll und ganz verwirklichen. Bei den Materialien und auch bei der Gestaltung musste der Bau teils an die jetzt gültigen Vorgaben angepasst werden (z.B. Beton statt Holz für die Treppe, Betondecken statt Holzbalkendecken, viele Lüftungs- und andere Leitungen im Erdgeschoss unter der Decke, Mauerwerk mit Dehnungsfugen, ein Aufzug war nötig). Der „Look and Feel“ wird dennoch außen und auch im Inneren kaum anders sein als bei einem renovierten Altbau. Typische Nachteile eines Gründerzeitbaus wie z.B. den mangelnden Schallschutz kann man im Neubau dagegen vermeiden, ohne auf Holzbodenbelag zu verzichten.
Ralph Matthiesen: Technisch ist das Allermeiste möglich. Dennoch wird man Wohnungen heute kaum ausschließlich mit Öfen beheizen können, schon aus Komfortgründen. Holzbalkendecken in historischer Konstruktionsweise erfüllen nicht die heutigen Anforderungen an Brandschutz oder Schallschutz. Dahinter steht die Frage, ob es eine potenzielle Mieterschaft gibt, der getischlerte Kassettentüren und Fensterbekleidungen oder nach historischem Vorbild geflieste Küchen und Bäder gegebenenfalls wichtiger sind als Fußbodenheizung und KNX-Installation. Ich denke, diese Mieterschaft gibt es.
Oft hört man von Bauherren, dass es immer schwieriger wird, detailreich zu bauen, weil das notwendige Fachwissen bei den meisten Handwerkern immer weniger vorhanden ist. Welche Erfahrungen haben Sie am Schulterblatt 37-39 dahingehend machen können?
Dr. Maren Landschulze: Wir kannten schon aus der Projekten der Altbausanierung und dem vorangegangenen Rekonstruktionsprojekt Handwerksfirmen, die für uns z.B. Türen und Stuckelemente herstellen konnten. Viele Elemente waren trotz der gründerzeitlichen Gestaltung letztlich immer noch „normales Bauen“, (Beton, Mauerwerk, Fensterbau, E-Leitungen verlegen etc.). Wichtiger war, dass man präzise vorgeben musste, wie genau die Tür, das Fenster, der Fliesenspiegel, etc. aussehen sollen, um die historischen Vorbilder zu treffen. Das ist nicht so sehr eine Technikfrage. Wichtiger ist m.E., dass man als Auftraggeberin eine gute Vorstellung vom angestrebten Ergebnis hat und die Aufgabe der Handwerksfirma klar und detailreich formulieren kann. Viele der beteiligten Handwerksfirmen hatten übrigens genau wegen des historisierenden Entwurfs auch viel Interesse daran, den Auftrag zu übernehmen, weil das Endergebnis erfreut und weil es eine Herausforderung für das Können war.
Ralph Matthiesen: Wir haben gute Erfahrungen mit Handwerkern gesammelt. Gerade die herausfordernden Arbeiten sind mit besonderem Ehrgeiz und besonderer Freude ausgeführt worden. Die meisten Menschen sind doch froh, wenn sie die Gelegenheit erhalten, ihr Können unter Beweis zu stellen. Einen richtigen Bogen mauern! Es ist wichtig, alle Beteiligten möglichst früh mit ins Boot zu holen und deutlich zu machen, was wir hier gemeinsam versuchen.
Wie hoch schätzen Sie den Mehraufwand/die Mehrkosten des Schulterblatt 37-39 gegenüber einem Haus mit für ein solches Wohnhaus üblicher Standardfassade?
Ralph Matthiesen: Das lässt sich nicht exakt beziffern. Es ist ja auch so, dass modern gestaltete Fassaden auch ihre Kosten aus Gestaltungsansprüchen haben. Zum Beispiel stützenfreie Ecken und andere „schwebende“ Konstruktionen. Eine einfache Lochfassade mit Fenstern bis 1,2 Metern Breite in WDVS? Ist vielleicht 10 oder auch 20 % billiger. Sie ist aber nicht unbedingt preiswerter.
Wie schätzen Sie den Lerneffekt eines Architekturbüros ein, das mit einem solchen Projekt betraut worden ist? Kann man daraus spezielle Erfahrungen mitnehmen, die auch bei künftigen Projekten hilfreich sind?
Ralph Matthiesen: Der Lerneffekt ist immens. Im Grunde mussten wir die meisten vermeintlichen Gewissheiten ablegen. Es ging bei diesem Bauvorhaben ja auch nicht nur um eine historisierende Fassade, sondern um alle Bereiche des Baus, bis zur Haustechnik. Es ist selten, dass man von der Bauherrenschaft gefragt wird, ob die Leitungen der Heizungsinstallation wirklich zwingend unter Putz verlegt werden sollten. Es ist erfrischend, wenn das Denken herausgefordert wird. Und das ist eine gute Erfahrung, für alle Beteiligten und für jedes weitere Projekt.
Wenn Sie noch einmal ein solches Projekt umsetzen müssten, welchen Fehler würden Sie in Zukunft vermeiden? Oder: Was würden Sie anderen Büros raten, die solche Aufträge erhalten?
Dr. Maren Landschulze: Man sollte eine gute Kenntnis davon haben sollte, wie die bauzeittypischen Elemente genau aussehen, die man haben möchte. Wenn Schwierigkeiten aufgetreten sind, waren das solche, die in jedem Bauvorhaben vorkommen können.
Ralph Matthiesen: Man sollte ganz am Anfang des Projekts alles, was man für selbstverständlich hält, in Frage stellen. Aber das gilt im Grunde ja unabhängig davon, ob es ein Vorhaben in historisierender Bauweise ist oder nicht.
Ergänzende Fragen:
Welche Software/Grafikprogramm ist für den Entwurf der Fassade verwendet worden, bzw. welche Software ist dafür am besten geeignet, Ihrer Meinung nach?
Ralph Matthiesen: Unabhängig von dem in diesem Fall verwendeten Programm, ist jedes CAD-Programm geeignet. Es ergeben sich keine besonderen Anforderungen. Zahlreiche kleinere Details haben wir bei diesem Projekt auch von Hand skizziert.
Aus welchem Material wurden die Details gefertigt und wie wurden sie gefertigt? (Handwerksarbeit oder CNC-Fräse…)
Ralph Matthiesen: Die Stukkaturen der Fassade sind traditionell hergestellt, teils gegossen und teils gezogen.
Sind die Ziegel nur Blender oder ist ein richtiges Vormauerwerk worden?
Ralph Matthiesen: Es handelt sich um Vormauerwerk.