In Gießen, welches bereits im 2. Weltkrieg und durch die Abrisswelle der 60er Jahre größte Schäden an seiner historisch gewachsenen Bausubstanz davongetragen hat, ist nun auch noch die neogotische, 1863 erbaute „alte Post“ vom Abriss bedroht, wenn sie nicht schnellstmöglich saniert wird. Eine lokale Bürgerinitiative kämpft dafür, wir versuchen, mit einem offenen Brief an die Oberbürgermeisterin, die Stadträte und sogar den hessischen Ministerpräsidenten auf die überregionale Problematik aufmerksam zu machen. Denn die Abrisswelle geht, wie wir alle wissen, bundesweit weiter.

Offener Brief für den Erhalt und die Sanierung der „Alten Post“ am Gießener Hauptbahnhof

Sehr geehrter Ministerpräsident Volker Bouffier, sehr geehrte Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz und sehr geehrte Stadträte Gießens,

„Stadtbild Deutschland“ ist ein bundesweiter Verein von Architekten, Künstlern und engagierten Bürgern, die sich für Schönheit und historisch verankerte Identität deutscher Stadtbilder einsetzen. Wir arbeiten mit zahlreichen Bürgerinitiativen bundesweit zusammen und wollen dadurch mithelfen, dass bei künftigen Bauprojekten mehr Sorgfalt auf gestalterischen Anspruch gelegt wird. Uns geht es darum, der Beliebigkeit und Monotonie zahlreicher Neubauten in deutschen Städten etwas Anspruchsvolles entgegenzusetzen. Ein weiteres Standbein unserer Vereinsarbeit ist der Schutz vom Abriss bedrohter, geschichtsträchtiger und stadtbildprägender Gebäude und Ensembles.

Wie inzwischen auch überregionalen Medien zu entnehmen ist, steht die „Alte Post“ am Gießener Hauptbahnhof seit etlichen Jahren leer. Mittlerweile ist das Gebäude stark vom Verfall bedroht und bedarf dringend einer umfassenden Sanierung. Trotz immer wieder geäußerten Sanierungs- und Nutzungsideen ist bis heute wenig passiert, weil sich die Stadt mit den derzeitigen Eigentümern, Karim Shobeiri und Sylvia Würtele, nicht einigen konnte oder wollte. Es wird in zahlreichen Zeitungsartikeln vermutet, Herr Shobeiri spekuliere – wie bei anderen Gebäuden zuvor – auf den weiteren Verfall und einen Notabriss, um dann das Grundstück für andere Zwecke nutzen zu können.

Das 1863 fertiggestellte „Großherzogliche Postamt der Fürstlich Thurn und Taxis`schen Postverwaltung“, heute kurz „Alte Post“ genannt, ist Kulturdenkmal aus künstlerischen, städtebaulichen und stadtgeschichtlichen Gründen. Sie ist ein Symbol der aufstrebenden Industrialisierungszeit und eine Zeit des Aufbruchs in Gießen, zugleich entstammt sie einer Zeit, in der der deutsche Bund, befördert durch Handel und Verkehr, zu einem einheitlichen Staat zusammenwuchs. Architektonisch ist der neogotische Stil, in dem das Gebäude gehalten ist, etwas Bewahrenswertes, da in ihm versucht wurde, historische Baustile unter den industrialisierten Bedingungen neu zu interpretieren und weiterzuentwickeln. Das ist ein architektonischer Gedanke, den man bei den meisten heutigen modernen Neubauten leider vermisst.

Angesichts des derzeitigen Baubooms sind Abrisse wertvoller Bausubstanz leider bundesweit zu beobachten und beunruhigen zunehmend die Bürger, die nun  um den weiteren Verlust des Restes an Identität ihrer Städte fürchten. Manche Städte bemühen sich daher trotz Grundstücksspekulationen darum, ihre historische Bausubstanz zu erhalten.

Aus Gießen hört man dagegen zwar viele mahnende Worte, aber kaum Taten. Es entsteht vielmehr der irritierende Eindruck, als sei speziell der Oberbürgermeisterin der Erhalt von historisch bedeutsamen Gießener Gebäuden egal.

Doch gerade Gießen sollte sich stärker für den Erhalt einsetzen, zumal die Stadt durch Bombardierungen im 2. Weltkrieg und nachfolgende Flächenabrisse der Wiederaufbauzeit nur noch relativ wenig historische Bausubstanz aufzuweisen hat.Angesichts der derzeitigen Monotonie im modernen Städtebau, bei dem fast alle neu errichteten Gebäude uniform, gleich und damit austauschbar aussehen, wäre bei einem Abriss des Postgebäudes und einer Neubebauung des Geländes keine Aufwertung des Bahnhofsumfeldes zu erwarten. Da der Bahnhofsplatz aber zugleich immer das Aushängeschild einer Stadt ist und der derzeitige Zustand unzumutbar, ist hier rasches Handeln geboten.Gießen sollte hier zugleich endlich ein Zeichen gegen Abrisswahn und Grundstücksspekulation  setzen, jedenfalls gegen eine solche Art der Grundstückspekulation, die wertvolle Gebäude ganz bewusst dem Verfall preisgibt.

Doch der lange Weg über die Verwaltungsgerichte, um die derzeitigen Besitzer zu enteignen, könnte viele, zu viele Jahre dauern. Diese Zeit hat die „Alte Post“ nicht mehr, sie muss dringend saniert werden. Noch ist sie, laut einem aktuellen, städtischen Gutachten vom Juli 2017, sanierungsfähig.

Wir bitten daher die Oberbürgermeisterin, die Stadträte und auch den Ministerpräsidenten des Landes Hessen darum, sich für eine schnelle, effiziente Sanierung und Neunutzung der „Alten Post“ in Gießen einzusetzen und das Thema nicht an Verschleppungsmentalität oder parteipolitischem Lagerdenken scheitern zu lassen! Ferner bitten wir die engagierten Gießener Bürger, in ihrem Bemühen um den Erhalt ihrer Stadt nicht locker zu lassen!

Hochachtungsvoll,

Manuel Reiprich, Bundespressesprecher „Stadtbild Deutschland e.V.“